Eisenbahngleise
Wir wollten so werden wie er. Jürgen Koeppen, Deutschlehrer, Besitzer eines Alfa Romeo Cabrios, mit dem er jeden Morgen auf den Lehrerparkplatz fuhr, die schulterlangen Haare unter der Fliegerkappe zusammengebunden, in ausgefranster Jeans und Felljacke, manchmal im grauen Dreireiher. Es waren die Siebziger und man sagte uns, dass wir später keine Chancen haben würden. Es seien zu viele, die jetzt das Gymnasium besuchen könnten und später nannte man uns die Nullbock-Generation. Er ließ uns einen Ausatz schreiben. "Schreibt auf, was Euch zu diesem Bild einfällt". Wir sahen Eisenbahngleise. Solche, wie diese hier. Und wir schrieben das, was Jugendlichen in der siebten Klasse einfällt, wenn sie eine gute Deutschnote bekommen wollen. Gedanken über Zeit, Einsamkeit, Schweigen. Nur eine von uns schrieb etwas anderes. Sie schrieb, dass dieses die Gleise sind, die nach Ausschwitz führen. Dass sie es kaum in Worte fassen kann, weil sie es nicht erlebt hat. Dass sie unendlich traurig ist. Jürgen Koeppen, der später in Südamerika an einer deutschen Schule unterrichtete, dann nach Deutschland zurückkehrte und fünf Jahre später an einem Gehirntumor starb, hat diese Deutscharbeit mit mangelhaft bewertet. "Zu weit hergeholt."
Bloxbaby - 27. Jan, 14:28
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